Hintergrundinfos

 

1. Ausgangssituation

In einer Gesellschaft, in der zwei Drittel der Bevölkerung über den Messenger WhatsApp miteinander kommunizieren und fast die Hälfte regelmäßig bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken aktiv ist, kommt auch der digitalen Seelsorge und Beratung eine neue Bedeutung zu. 63 Millionen Menschen sind statistisch in unserem Land bis zu 6 Stunden täglich online. Und wohl fast jeder steht in seinem Leben dann und wann vor Problemen, muss persönliche Herausforderungen meistern und möchte darum die eigenen Sorgen und Gedanken mit anderen teilen. Seit einigen Jahren macht die Telefonseelsorge (TS) mit ihren digitalen Kanälen, der Email- und der Chatseelsorge, sehr gute Erfahrungen. Viele Menschen wenden sich mit ihren Themen an die Seelsorgerinnen und Seelsorger der TS und vielen kann nachhaltig geholfen werden. Leider ist aber der Andrang so groß, dass jeden Tag rund 120 Chatanfragen und 50 Emails bundesweit unbeantwortet bleiben müssen. Die Nachfrage ist gegeben, es fehlt allein an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Die Chatseelsorge unserer Landeskirche ist seit 2002 aktiv. Bisher wurde an zwei Abenden für je zwei Stunden ein moderierter Gruppenchat angeboten, der von bis zu 40 Personen in Anspruch genommen wurde. Hier ist Raum für Austausch, Gemeinschaft und gegenseitige Hilfestellung und Empathie. Zusätzlich werden an den Abenden jeweils zwei Räume für Einzelchats geöffnet. Im vertraulichen Gespräch mit der Seelsorgerin oder dem Seelsorger können Ratsuchende individuell und persönlich ihre Themen besprechen und Hilfe zur Selbsthilfe erwarten.

Eine Moderatorin, ein Moderator betreut diesen offenen Gruppenchat. Er oder sie begrüßt alle neuen Chatbesucher und sorgt dafür, dass die Gespräche nach den Regeln der „Netiquette“ ablaufen.

Zwei Seelsorger*innen, die sich von zu Hause aus in das System einloggen, stehen für persönliche und diskrete Chatgespräche zur Verfügung. Rund 300 dieser Einzelgespräche wurden 2018 geführt. Für diese Gespräche kann man sich anmelden. Sie finden in einem weiteren Chatraum statt, der nur der Seelsorger*in und der Gesprächspartner*in zugänglich ist. Diese Gespräche zu zweit haben eine festgelegte Dauer von 45 Minuten. An einem normalen Abend sind zwei solcher Gespräche pro Seelsorger*in möglich. Manchmal ergibt es sich, dass auch noch länger als zur eigentlichen Öffnungszeit der Chatseelsorge miteinander im Zweiergespräch geschrieben wird. Auch weitere, zusätzliche Termine lassen sich vereinbaren.

Die Themen reichen im Gruppenchat von tagesaktuellen Ereignissen (Nachrichten) über private Einsichten, Meinungen und Fragen oder Probleme. In den Einzelchats geht es tiefer und immer wieder um Einsamkeit, Missbrauch, psychische Erkrankungen, Sucht, Gewalterfahrungen, Eheprobleme, Erkrankungen der Kinder, Essstörungen, suizidale Absichten,…

Jeder Teilnehmer meldet sich mit einem Nick an. Keiner erscheint mit seinem Klarnamen und sollte der Nick einmal diesem entsprechen, fiele es vielleicht sogar noch nicht einmal auf. Das sorgt für eine große Anonymität auf Seiten der Ratsuchenden. Wer sich nicht mit einem Nicknamen anmelden möchte, wird einfach als „Gast“ bezeichnet und erscheint unter diesem Nick im Chat. Mehrere Gäste werden nummeriert dargestellt: Gast1, Gast2,… Die Seelsorger*innen sind mit ihrem Klarnamen zu erkennen.

Jetzt, in Zeiten der Corona-Infektionen, hat die Chatseelsorge ihr Angebot stark erweitert und öffnet fast täglich. Auch neue Seelsorger*innen konnten bereits gewonnen werden, aus der Landeskirche Hannovers, aber auch aus dem Rheinland, mit dem es bereits eine langjährige Kooperation in diesem Projekt gibt.

Die gegenwärtige Software der Chatseelsorge (chatseelsorge.de) ist veraltet. Sie lässt sich noch betreiben, aber nicht mehr ausbauen und somit auch nicht an moderne Erfordernisse anpassen. Etwas Neues ist nötig.

 

Die herausfordernden Erlebnisse der Telefonseelsorge und die Rückmeldungen zur Chatseelsorge machen Mut, aus den Erfahrungen zu lernen, die Kräfte zu bündeln und etwas Neues zu entwickeln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die exponentiell ansteigende Mediennutzung für alle Kommunikationsbereiche ein Angebot herausfordert, das nicht nur Zielgruppen quer durch unsere Gesellschaft, sondern vor allem eine ständig wachsende Bandbreite an Endgeräten, Darstellungsformen und Kanälen für vertrauliche Gespräche einbezieht.

Auf der Grundlage eines umfangreichen Konzeptionsprozesses im Zentrum für Seelsorge der Landeskirche Hannovers unter Beteiligung verschiedener seelsorglicher Fachbereiche besteht in der Landeskirche Hannovers die Absicht, ein sogenanntes „Haus der digitalen Seelsorge und Beratung“ aufzubauen. Das ist erklärtermaßen nur ein Arbeitstitel, aber doch einer, unter dem sich viele Menschen sofort vorstellen können, worum es gehen soll.

Mit der Einrichtung und Besetzung der Stelle „Digitale Seelsorge und Beratung“ der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers am Zentrum für Seelsorge zum 01. August 2019 sollte das erarbeitete Konzept „Mediale Seelsorge und Beratung“ vom 12. Dezember 2017 umgesetzt werden. Darin heißt es, es ginge darum „sich auf stark veränderte Formen medialer Nutzung vorzubereiten und sich in neuen Praxisfeldern zu erproben. Inzwischen ist es sowohl in der Landeskirche als auch in den EKD-Gremien erkannt, dass die Landeskirchen zunehmend den Anschluss an die neuen Formen medialer Kommunikation verlieren und damit für bedeutende Zielgruppen, etwa die nachwachsenden Generationen, kein attraktiver Partner in einer verlässlichen Kommunikation mehr sind.“ (Seite 2)

Um diesem drohenden Bedeutungsverlust und der zunehmend geringer werdenden kommunikativen Anschlussfähigkeit entgegenzuwirken, braucht es ein neues Software-System in der Chatseelsorge, die im Verbund mit anderen Landeskirchen in der EKD das bisherige Konzept der Chatseelsorge aufgreift und zukunftsfähig neu aufbaut. Der Bedarf nach digital basierter Seelsorge ist wie beschrieben enorm. Hier können wir mit unserer Idee des „Digitalen Hauses“ gut anknüpfen. Unter Aufsicht und Verantwortung des Zentrums für Seelsorge soll ein umfassendes digitales Haus der Seelsorge und Beratung entstehen, das von den Nutzerinnen und Nutzern (Seelsorgepartner*innen) sowohl mobil als auch stationär aufzurufen ist. Die Chatseelsorge selbst, aber auch der Chat für gehörlose und schwerhörige Menschen, die russische-sprachige Doweria-Chatseelsorge, die Online-Beratungen der Lebensberatungsstellen sowie Seelsorgeangebote einzelner Kirchengemeinde und Kirchenkreise können in dieses Haus einziehen und digitale Seelsorge und Beratung anbieten. Sicher, geschützt und datenschutzkonform. Es kann nicht Ziel sein, die bisherige Chatseelsorge lediglich mit neuer Software konzeptgleich zu aktualisieren. Die Bedürfnisse

der Ratsuchenden sind heute anders als vor 15 Jahren. Moderne Gesprächsmöglichkeiten sind als fakultative Elemente unverzichtbar, genauso wie eine Nutzung vom Smartphone aus.

Wir haben also mehrere Gründe, die für eine Neuorientierung des Angebotes einer digitalen Seelsorge und Beratung sprechen:

  • Umsetzung des beschlossenen Konzeptes der „Medialen Seelsorge und Beratung“ vom Dez. 2017
  • veraltete und entsprechende technisch unsichere Software der bisherigen Chatseelsorge
  • veränderte Kommunikationsbedürfnisse der Ratsuchenden
  • Aufbau einer Infrastruktur für digitale Seelsorge und Beratung
  • enorme Nachfrage nach qualifizierte Seelsorge und Beratung im digitalen Raum
  • Anschlussfähigkeit für andere Anbieter, wie KG, Lebensberatungsstellen, … über die Grenzen der Landeskirche hinaus

Stellen wir uns also tatsächlich ein Haus vor mit diversen Zimmern auf verschiedenen Etagen.

 

2. Zielgruppe

Das Haus steht allen Ratsuchenden und interessierten Menschen offen, unabhängig von Herkunft, Alter, geschlechtlicher Identität und Orientierung, Einkommen oder religiösen Überzeugungen. Mit dem „Haus der digitalen Seelsorge und Beratung“ wollen wir alle Menschen ansprechen und durch ein geeignetes Design und eine barrierefreie Darstellung möglichst viele von ihnen erreichen und einen Zugang zu Seelsorge und Beratung bieten. Um die Reichweite und Bekanntheit zu erhöhen soll es auch Vernetzungen mit den bekanntesten Social-Media-Kanälen geben.

Nicht zuletzt gehören die Kirchengemeinden und Beratungsstellen innerhalb unserer Landeskirche zur erklärten Zielgruppe. Ihnen soll eine Plattform bereitgestellt werden, mit der sie ihren Klienten oder Gemeindegliedern datensicher und nutzerorientiert eine Kontaktfläche, einen Raum zum Austausch, zum Gespräch und zur Seelsorge/Beratung anbieten können. Mit dem Blick über unsere Landeskirche hinaus, könnte in Zukunft dieses Angebot auch anderen Landeskirchen und Beratungsstellen innerhalb der EKD angeboten werden. Das Internet kennt keine (Landeskirchen-)Grenzen oder Gemeindeparochien. Inwieweit das kostenpflichtig geschehen soll, muss noch diskutiert werden.

 

3. Technische Anforderungen

Das „Haus der digitalen Seelsorge und Beratung“ soll u.a. folgende Features enthalten:

  • Gruppenchat
  • Einzelchats
  • Videochat
  • Anbindung/Integration des Matrix-Messengers (App)
  • E-Mail-Beratung (internes datengeschütztes Mailsystem)
  • Terminbuchungssysteme
  • Raumbuchungssysteme
  • Teilen von Inhalten (Texte, Bilder, Videos) in Räumen soll möglich sein
  • Möglichkeit zu Webinaren und Expertenchats
  • Verwaltung der Mitarbeiter*innen, inkl. Dienstplan
  • Intranet für Mitarbeitende (Diskussion, Fortbildung, Ortsunabhängige Supervision)
  • differenziertes Rollen- und Rechtesystem

Um das neue System auch in Zukunft den sich wandelnden Bedürfnissen anpassen zu können, ist ein modularer Aufbau sinnvoll. So können weitere Module mit der Zeit eingefügt werden, z.B. Online-Kurse, Blog, Vlog, einen Tool-Speicher oder ein Archiv für Artikel, Links und Andachten oder Fotos/Bilder.

  • Das System soll sich intuitiv bedienen lassen. Hilfesuchende sollen in der Wahl Ihres Kommunikationskanals ebenso geführt werden wie Klarheit über Sicherheit und Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen erhalten.
  • Das zukünftige Erscheinungsbild sollte sich in Farb- und Formgebung an in der Landeskirche Hannovers bereitgestellten Internetsystemen orientieren und die Wortbildmarke der Landeskirche verwenden. Die Dachmarkenstrategie der Landeskirche Hannovers soll sich auch visuell widerspiegeln. Darüber hinausgehende Formgebungen können mit der Grafikabteilung im eigenen Haus abgestimmt werden.

Die Anmutung sollte wertig und zurückhaltend sein und getreu dem Motto „weniger ist mehr“ gestaltet werden. Die Kontaktmechanik steht im Vordergrund.

  • Das System soll einen zugriffsbeschränkten Bereich für Seelsorger und Seelsorgerinnen, Erstellung von Zeiten, gegenseitigen Austausch und Verfügbarkeit enthalten.
  • Es muss den im DSG-EKD festgelegten Datenschutzbestimmungen entsprechen. Insbesondere ist die nach § 30 Abs. 5 festgelegte Unterwerfung bzgl. Betrieb der Software und Datenverarbeitung im Auftrag zu beachten.
  • Die Barrierefreiheit des „digitalen Hauses“ ist zu gewährleisten. Dabei sind ggf. verfügbare Techniken (Readspeaker) einzubinden.
  • Das System soll einen redaktionellen Bereich für News, Mitteilungen, Bekanntmachungen o.ä. beinhalten.
  • Das System soll einen Bereich für die Vorstellung der Seelsorgerinnen und Seelsorger beinhalten.
  • Das verwendete Betriebssystem / die interne Bedienoberfläche sollte ohne großen Schulungsaufwand und fachliche Vorkenntnisse von Mitarbeitern bedient werden können.
  • Es soll einen kontextuellen Hilfebereich enthalten, um die Schulung von Mitarbeitenden auf ein Minimum zu beschränken.
  • Angebot als APP / mobile Webseite: Das „Haus“ sollte mobil voll benutzbar sein. Inwieweit eine native App, eine hybride App oder eine Web-App zum Einsatz kommt, ist durch den Auftragnehmer zu entscheiden und zu begründen. In jedem Fall sollen die wesentlichen Funktionen wie die Wahl eines Kommunikationskanals, eine übersichtliche Darstellung der Termine und Angebote sowie die Darstellung der Anbietenden verfügbar sein.
  • Eine komplexe Technik sollte nicht zu einer überkomplexen Struktur führen. Der Nutzer soll jederzeit „sehen/wissen“ wo er sich auf der Seite befindet und wie man wieder zur Ausgangsseite zurückkommt.

 

Die Kirchengemeinden und Beratungsstellen vor Ort sollen mit ihren Angeboten mit der Präsenz des „Hauses der digitalen Seelsorge und Beratung“ verknüpft werden. Es braucht dafür eine Möglichkeit, über diese Webseiten in das Beratungsangebot einzusteigen (dezentraler Einstieg auf der Grundlage des Websystems der Landeskirche mit 1.800 Gemeinde- und Institutionsseiten). Nach aktuellem Planungsstand werden Kirchengemeinden dezentral „Beratungs- und Seelsorgeräume“ innerhalb ihrer eigenen Präsenzen anbieten können, wodurch sich für das Engagement auf einer zentralen Plattform ein auf den eigenen Wirkungskreis zugeschnittenes, attraktives Angebot ergibt.

Da wir uns zunehmend mobil im Internet bewegen, sollte auch der neue Auftritt responsiv ausgearbeitet sein und über Smartphone und Tablet leicht bedient werden können.

Ohnehin ist eine barrierefreie Gestaltung und ein ansprechendes Design wichtig, das genau den Charakter des digitalen Hauses als Ort der Gemeinschaft und Sicherheit widerspiegelt, ganz so, wie es für die Seelsorge wichtig und unterstützend ist.

Abschließend sind eine statistische Erfassung und Auswertung der Besuche, Themen und Zeiten zur Kontrolle und jährlichen Evaluation wichtig. Die Konformität zum EKD-Datenschutzgesetz (DSG-EKD) ist selbstverständlich.

 

4. Ziel des Projektes

Die Erfahrungen vieler Aktiver in der digitalen Seelsorge zeigen, dass digitale Kommunikationsmöglichkeiten, Menschen besonders öffnet und befähigt, über ihre Themen und Probleme zu sprechen. Isabel Overmans, Seelsorgerin in einem Altenheim und ehemalige stellvertretende Leiterin der Telefonseelsorge in Freiburg schreibt:

„Die Technik bietet große Chancen der Kontaktaufnahme, gerade heute in einer Zeit der Individualisierung und der damit einhergehenden Vereinsamung sind diese Möglichkeiten der Seelsorge unersetzlich. Gerade auch bei Menschen, die Angst vor persönlichen Kontakten haben oder so verletzt sind, dass es Ihnen nur noch möglich ist zu schreiben, weil sie sich schämen zu reden.“[1]

Sowohl die TS als auch die Chatseelsorge erleben, dass in digitalen Räumen eher, bzw. schneller die „schweren Themen“ auf den Tisch kommen. Missbrauch, häusliche Gewalt, suizidale Absichten und manches mehr wird schriftlich digital oft ohne größere Umschweife den Seelsorger*innen mitgeteilt. Das ist eine Chance für unser Projekt. Wir wollen einen sicheren Raum anbieten, um mit den Menschen in unserer Landeskirche und darüber hinaus in einen intensiven, wertschätzenden Kontakt zu kommen. Als Raum der Erholung, des Zuspruchs, der Begegnung, anonym oder sichtbar, schriftlich oder per Videochat. Auf jeden so, dass der oder die Ratsuchende sich so äußern kann, wie es ihm und ihr in dieser Zeit und mit diesem Thema passt.

 

5. Theologische Implikationen

Jesus Christus ruft seine Nachfolger*innen dazu auf, den Menschen nahe zu kommen und ihnen dort zu begegnen, wo sie sich befinden.

„Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.“ – (Mt 25,35f.)

Heutzutage würde Jesus sicher sagen: Ich bin online gewesen und ihr habt euch mit mir vernetzt.

Das „Haus der digitalen Seelsorge und Beratung“ soll diesem Auftrag nachkommen und den Menschen dienen. Als Beratungsplattform, als Hilfe zur Selbsthilfe, ermutigend, wegweisend, unterstützend.

 

6. Erfolgschancen

Wir sind sicher, dass wir aufgrund der enormen Nachfrage, einen festen Platz im Seelsorge-Angebot der Kirchen in Deutschland einnehmen werden und Nutzerzahlen das auch belegen werden. Das liegt auch an der Tatsache, dass es ein ähnliches Projekt gegenwärtig in Deutschland nicht gibt. Bestehende Lösungen, wie z.B. das der Telefonseelsorge sind durch die Vorgaben der vollständigen Anonymität nicht so breit und flexibel aufgestellt, wie das geplante „Digitale Haus“. Wir können uns auf die vielfältigen und sich wandelnden kommunikativen Bedürfnisse der Menschen einstellen und darauf reagieren, ihnen entgegenkommen und sie dort abholen, wo sie sind und ihnen auf dem Kanal begegnen, den sie brauchen oder persönlich vorziehen.

Erfolg messen wir aber auch in der Qualität der Beratungsleistung. Darum entwickeln wir ein eigenes Ausbildungsangebot, dass mit der TS und anderen Anbietern (z.B. DGOB[2]) kooperiert, sich an deren Curricula anlehnt und doch eigene Weg geht, weil es auf unser Angebot zugeschnitten sein muss. Neben einer grundständigen Ausbildung in Beratung, wird unser noch im Detail zu erarbeitender Ausbildungsgang auch Kenntnisse zu psychischen Erkrankungen vermitteln und natürlich das notwendige Know-how der digitalen Seelsorge und Beratung umfassen. Kenntnisse über weitere (kirchliche) Hilfsangebote zur Weitervermittlung der Ratsuchenden, sowie eine Praktikums- bzw. Hospitationszeit gehören ebenfalls dazu. So wollen wir gezielt für die vor uns liegenden Anforderungen und Bedarfe gerüstet sein. Für die Qualifizierung der Mitarbeit im „Haus der digitalen Seelsorge und Beratung“ ist geplant, in der Landeskirche die Ausbildung sowie Fort- und Weiterbildung für Pastor*innen und Diakon*innen einzubinden. Das bedeutet konkret, einen Teil „Digitale Seelsorge“ in die Vikarsausbildung zu etablieren, sowie Angebote für FEA und Pastoralkolleg vorzuhalten. Dieses Modell könnte von anderen Landeskirchen übernommen und somit Synergien geschaffen werden.

Zuletzt wird eine weitreichende Vernetzung mit anderen Seelsorge- und Beratungsangeboten, aber auch mit anderen Landeskirchen den Erfolg dieses Projektes zeigen. Wir streben eine breite Vernetzung im guten Sinne des Internets als „Zwischen-Netz“ an und freuen uns, wenn auch andere Beratungseinrichtungen und Kirchengemeinden dieses nutzen.

Trotzdem gehen wir konsequent einen eigenen Weg und grenzen uns von reinen Beratungsangeboten wie „deinesuchtexperten.de“ der Diakonie oder dem digitalen Angebot der Telefonseelsorge ab, in dem wir ein breites Portfolio an Seelsorge, Beratungs- und Begleitungsleistungen vorhalten wollen, das offen ist für externe Anbieter und Partner (Beratungsstellen und Kirchengemeinden).

Der beschriebene Ansatz ist in der EKD einzigartig und antizipiert künftige Mediennutzungsgewohnheiten ebenso wie vorhandene digitale Beratungsansätze. Die Beantragen haben die in der Telefonseelsorge im Einsatz befindliche Beratungssoftware der Kölner Agentur DOM eingehende geprüft und halten einen weiteren Ausbau dieser Software für einen möglichen Lösungsansatz. Neben der Kölner Agentur würden die Agenturen aperto (Berlin) und gobasil (Hannover & Hamburg) um Angebote gebeten.  Mit allen drei Agenturen befinden sich die Antragsteller in einem umfassenden Briefingprozess. Ein Pitch der Agenturen ist für den 6.5.2020 geplant. Die Offenheit der Antragsteller für eine Lösung, die über vorfindliche Ansätze hinausgeht, soll die Stabilität der Softwarearchitektur für die nächsten Jahre ebenso sicherstellen, wie eine möglichst breite Diskussion über den Ansatz und die qualitativen Ziele ermöglichen. Hier sind z.B. Aspekte wie die Anonymität der Seelsorgenden in der Telefonseelsorge im Gegensatz zur Chatseelsorge ebenso zu bedenken wie Abhängigkeiten von Softwarelösungen (Open Source vs. Lizenzmodelle).

 

7. Innovationsgehalt des Projektes

„Seelsorge ist (…) ein Angebot von Beziehung – von Beziehung als einem ganz zentralen menschlichen ‚Lebens-Mittel‘“[3].  Mit dem „Haus der digitalen Seelsorge und Beratung“ können wir genau dieses „Lebens-Mittel“ anbieten, in all den verschiedenen Formen und Facetten, wie es benötigt oder gewünscht wird. Ob es nun E-Mailberatung, Chatberatung sei, seelsorgliche Kurse, Expertenchats oder Angebote für Gruppen, Chaträume für Kirchengemeinden und Beratungsstellen oder Supervision im Intranet, ob mit Video oder ohne – unser Projekt kann dem gerecht werden und den aktuellen und individuellen Bedürfnissen Rechnung tragen.

 

Den innovativen Charakter des Projektes erkennen wir in folgenden Punkten:

a) Die anhaltende Krise der körperlichen Begegnungen aus Gründen des Gesundheitsschutzes fordert kirchliche Seelsorge- und Beratungsangebote geradezu heraus, innovative digitale „Begegnungsmöglichkeiten“ in einem digital sicheren Kontext zu schaffen und in der Vielfalt anderer Angebote zu Lebenshilfe klar erkennbar zu sein.

b) Das geplante „Digitale Haus“ schafft eine entsprechende tragfähige, digitale Infrastruktur zu sicheren Seelsorge und Beratung.

c) Digitale Räume für Kirchengemeinden sind aktuell Mangelware und dennoch ein längst überfälliger Teil einer modernen Gemeindearbeit. In einer Zeit wachsender Social-Media Ernüchterung (Fakenews) bieten digitale Räume „vor Ort“ vertraute Sicherheiten. Wir erhoffen uns daher auch eine höhere Identifikation vor Ort mit diesem Angebot und somit eine höhere Akzeptanz.

d) „Blended counseling“ lässt sich hier besonders für Beratungsstellen umsetzen. Ein physisch begonnener Beratungsprozess kann, auch nur zeitweise oder z.B. aus Krankheitsgründen digital fortgesetzt werden. Im Wechsel des Settings steckt die Chance einer fruchtbaren Intervention.

e) Und zuletzt lässt sich „hybride Beratung“ realisieren. Ähnlich einer Videokonferenz ist es möglich zeitgleich, digitale und physische Seelsorge und Beratung stattfinden zu lassen. So könnte in der Paarberatung ein Partner vor Ort in der Beratungsstelle sein, der andere Partner wird digital dazu geschaltet. Gleiches gilt für die Seelsorge.

f) Aus vielen Gesprächen mit Vertretern der anderen Landeskirchen weiß ich, dass man auf uns und unser Engagement wartet. Das empfinde ich nicht nur als Druck, sondern vor allem als große Wertschätzung unserer Ideen, Gedanken und Vorarbeiten auch der letzten Jahre.

g) Mit dem "digitalen Haus" können wir der Krankenhaus- und auch der Militärseelsorge eine entsprechende Infrastruktur zur Ausübung ihrer jeweiligen Tätigkeiten zur Verfügung stellen. Das hat sicher nicht nur in Corona-Zeiten ungeheure Bedeutung und Gewicht und schenkt auch diesen Arbeitsbereichen neue Möglichkeiten oder hält sie überhaupt zu einem guten Stück arbeitsfähig.

h) Nicht zu unterschätzen: wir haben die nachwachsenden Generationen im Blick und bieten ihnen ein passendes Medium, inkl. Social-Media-Vernetzung/Einbindung.

 

8. Relevanz für EKD und ihre Gliedkirchen

Das Projekt des „Hauses der digitalen Seelsorge und Beratung“ ist eine Entwicklung der Landeskirche Hannovers. Das Projekt wurde in einem zwei Jahre andauernden Fachdiskurs unter Leitung des Zentrums für Seelsorge vorbereitet. Doch auch wenn es aus unserer Landeskirche kommt, muss es nicht auf unsere Landeskirche beschränkt bleiben. Das Haus ist offen auch für andere Landeskirchen, deren Kirchengemeinden und Beratungsstellen. Im Internet gibt es keine Grenzen und keine Parochien. Und nicht jeder muss „das Rad“ selbst oder neu für sich erfinden. Wir können und sollen voneinander profitieren, Synergien nutzen, miteinander arbeiten. Doch vielleicht inspiriert es auch „nur“ zu eigenen und ganz anderen Überlegungen und Ideen, zu weiterer Kooperation oder Vernetzung. Auch das wäre gut und ein Segen für uns alle. Das entstehende „Haus“ ist skalierbar und bietet durch eine geplante Multimandantenfähigkeit abgegrenzte Räume für andere Kirchen und deren Teilstrategien. So könnten andere Telefonseelsorgen, Beratungsstellen, Diakonische Werke, Seelsorgezentren u.a. Teilbereiche ihres Engagements im digitalen Raum in dieses Haus „einzahlen“ oder aber veraltete Software mit eigenen Betriebskosten und aufwändiger Wartung durch das „Haus“ ablösen. Grundsätzlich profitiert das Projekt von der Beteiligung vieler seelsorglicher Fachrichtungen und Spezialisierungen im Bereich der EKD, um z. B. Sondersprechstunden für verschiedene Themen anzubieten.

 

[1] Isabel Overmans, Der Stille eine Stimme, dem Dunkel ein Gesicht, in: Drechsel/Kast-Streib, Seelsorgefelder, S.34f.

[2] Deutschsprachige Gesellschaft für psychosoziale Online-Beratung

[3] Drechsel, Die Vielfalt der seelsorgerlichen Praxis als Grundlage, in: ders., Seelsorgefelder, S.113.