Digitale Seelsorge - Was denn sonst?

Einige Gedanken zum Charakter von Seelsorge im Internet

 

Wir bewegen uns mittlerweile in zwei verschiedenen Räumen und das oft gleichzeitig. Wir sind offline und online unterwegs. Wir leben „kohlenstofflich“ in der realen, nicht-virtuellen Welt und ebenso sind wir in der realen, aber virtuellen Welt aktiv und lebendig. Natürlich macht das noch nicht jeder und natürlich nicht jeder immer. Aber längst ist es auch kein Phänomen der Jugend oder jungen Erwachsenen mehr. Die Mediennutzung in unserer Gesellschaft insgesamt ist vielfältig und diffus geworden. Viele Menschen streamen oder schauen Fern und sind gleichzeitig mit dem Tablet oder Smartphone, dem sogenannten „second screen“, auf Youtube oder in den sozialen Medien aktiv. Die Grenzen verschwimmen und werden durchlässiger. Wir schippern gleichzeitig auf mehreren Kanälen. Die Online-Welt wird dabei genauso intensiv und real wahrgenommen, wie die Offline-Variante. Durch das Smartphone, durch Wearables und durch das mobile Internet gibt es für viele Menschen zwischen diesen beiden Welten kaum noch einen Unterschied. Egal, wo wir uns befinden, wir können hier vor Ort und online überall sein. 

Für die Seelsorge bedeutet dieses Leben und Erleben, diese Wirklichkeiten, neue Herausforderungen mit denen sie umzugehen und worauf sie sich einzustellen hat.
Früher war es klar und unumstritten: Seelsorge findet im abgeschirmten Raum statt. Das „Unter-vier-Augen-Prinzip“ (Face-to-Face) war leitend. Auf die Verschwiegenheit der Seelsorger konnte man sich verlassen, nichts würde je von dem Gespräch nach draußen dringen. Und selbst wenn man sich, wie im Gemeindealltag so oft geschehen, zwischen Tür und Angel traf und sprach, so war man doch irgendwie für sich, sorgte mit gedrehtem Rücken und flüsternder Stimme für einen dezenten Rahmen der Abgeschiedenheit, auch als Zeichen für andere: Bitte gerade nicht stören! Und es war auch so, je länger das Gespräch dauerte, je ernster die Themen, je dichter die Atmosphäre, desto mehr Seelsorge geschah gefühlt gerade – egal, ob es tatsächlich so war. Wer wollte es auch beurteilen?

Tja, und dann kam das Internet. Und die Frage, wer eigentlich beurteilen könnte, wann was schon oder noch Seelsorge sei, wurde – wie die Mediennutzung – ebenfalls immer diffuser.

Nur eines wurde immer klarer: Eins zu eins lässt sich Offline-Seelsorge nicht in den Online-Raum transportieren. Und: Wir können nicht mit unseren analogen Kriterien und Kategorien, digitale Angebote angemessen beurteilen. Zwischen WhatsApp und Twitter muss Verschwiegenheit anders gedacht werden (Stichwort: Datenschutz). Bei Facebook ist „Face-to-Face“ anders definiert. Das Internet sorgt für eine neue Bewertung dessen, was wir unter Seelsorge verstehen dürfen. Es sind eben zwei unterschiedliche Räume und Realitäten, in denen wir uns da (oft) gleichzeitig bewegen. Wer es dennoch tut, wird weder den Räumen und ihren Angeboten gerecht, noch den Menschen, die sie nutzen. Wir brauchen neue Definitionen. Wir brauchen Begriffe, die weiter reichen, als das, was bisher Seelsorge beschrieben hat, denn auch der digitale Raum ist weiter, ja grenzenlos. Und das ist gut so, denn für die Seelsorge ergeben sich so ganz neue Möglichkeiten.

Was tut Seelsorge eigentlich? Nehmen wir nur einmal das Wort beim Wort, dann sorgt Seelsorge für die Seele. Wobei mit „Seele“ nach biblischem Verständnis aber nicht nur ein Teil des Menschen benannt wird, der irgendwo im Körper liegt und immateriell, vergeistigt vorhanden ist. Unter Seele versteht die Bibel im Großen und Ganzen den Menschen in seinem vollen Personsein. Die Seele, das bin ich und das bist Du in der Gesamtheit.[1] Der Mensch hat nicht nur eine Seele, er ist eine Seele (1. Ms 2,7).[2] Wer Seelsorge betreibt, sorgt sich darum vom biblischen Wortsinn her, um das Leben der Person ganzheitlich. Oder kurz gesagt: Seelsorge fördert das Leben der Menschen. Das ist ihr Anspruch und es bleibt ihr Zuspruch.

Wir können das aber natürlich nur im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe tun. Weder wissen wir, was andere Menschen glücklich macht, noch schreiben wir ihnen vor, was sie zu tun oder zu lassen haben. Wir sorgen vielmehr dafür, dass die Seelsorgepartner für sich selbst, für ihre eigene Seele sorgen können. Dazu ermutigen wir. Dazu rüsten wir mit den nötigen Kompetenzen und Ressourcen aus. Darum sprechen wir von Vergebung und Neuanfang, von Wertschätzung und Hoffnung. Darum leben wir das selbst vor, so gut wir können, wann und wo immer es geht.[3] Prof. Wolfgang Drechsel hat Seelsorge als Lebensunterhaltung beschrieben.[4] Ein schönes Wortspiel im Sinne der Straßen- und Gebäudeunterhaltung. Seelsorge hilft, dass das Lebenshaus heil bleibt, trotz Unheil, trotz Krankheit, Schuld und Versagen.

Seelsorge sieht den Menschen, wie er ist, ohne Urteil und Ansehen der Person, aber mit all seinen Möglichkeiten und Wegen. Darum ist Seelsorge etwas zutiefst Menschliches. Jeder Mensch braucht Seelsorge und jedem Menschen sollte die Gelegenheit gegeben werden, Seelsorge in Anspruch nehmen zu können. „Seelsorge ist hier, mitten im Alltag, ein Angebot von Beziehung – von Beziehung als einem ganz zentralen menschlichen ‚Lebens-Mittel‘.“[5]

Isabel Overmans, Seelsorgerin in einem Altenheim und ehemalige stellvertretende Leiterin der Telefonseelsorge in Freiburg schreibt: „Die Technik bietet große Chancen der Kontaktaufnahme, gerade heute in einer Zeit der Individualisierung und der damit einhergehenden Vereinsamung sind diese Möglichkeiten der Seelsorge unersetzlich. Gerade auch bei Menschen, die Angst vor persönlichen Kontakten haben oder so verletzt sind, dass es Ihnen nur noch möglich ist zu schreiben, weil sie sich schämen zu reden.“[6]

Das Internet schafft (Lebens-)Räume und eröffnet Möglichkeiten zur Begegnung durch
– flache Hierarchien,
– dem selbstverständlichen (und doch nicht verordnetem) „Du“
– dem Kontakt auf Augenhöhe,
– dem schier unendlichen Angebot, sowie
– der direkten Feedbackmöglichkeit,
– der Nähe trotz aller (gefühlten) Distanz,
– der schnellen Datenübertragung und den
– unterschiedlichen Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme, zu Gespräch und Begegnung (offen, anonym, teilanonym, per Video, schriftlich, telefonisch, versteckt hinter Avatar, fremde/falsche Identitäten,…) und
– der Möglichkeit, diese Treffen jederzeit und ohne Angabe von Gründen einseitig zu beenden, auch
– ohne Konsequenzen zu befürchten,
– Treffen zu wechseln oder neu zu starten…

Dies alles zwingt Anbieter im digitalen Raum dazu, Seelsorge nicht mehr nur von Seiten der Seelsorgenden, sondern auch und intensiv von Seiten derer zu begreifen, die Seelsorge in Anspruch nehmen. Mit anderen Worten: Das, was sie für Seelsorge halten, ist (für sie) Seelsorge. Wer auf dem Markt der Möglichkeiten nicht mehr der alleinige Anbieter ist, kann auch nicht mehr allein vorgeben, was wie verstanden werden soll.[7] Es ist nun vielmehr das Gegenüber, der oder die entscheidet, was für sie oder ihn Seelsorge sein soll und gewesen ist. Ein Gespräch, eine Begegnung, ein Tweet oder Posting wird dann zur Seelsorge, wenn das Gegenüber es so verstanden und aufgenommen hat.[8] Die Deutungshoheit liegt nicht mehr beim Anbieter, sondern beim Empfänger.[9] Zumindest auch und sehr viel stärker noch als vor den Möglichkeiten und Herausforderungen des Internet. Die digitalen Medien, oder vielmehr Bedingungen des Lebens in, mit und durch sie, zwingen Kirche stärker als bisher dazu, über die eigene Haltung den Menschen gegenüber nachzudenken und diese auch durchzuhalten in den unterschiedlichen Kontexten, in denen sie sich bewegt. Eine große Chance!

Seelsorge darf also „agil“ sein. Das heißt: flexibel und darüber hinaus proaktiv, antizipativ und initiativ zugleich. Den Begriff des „Agilen“ kennen wir aus der Unternehmensführung. Agile Unternehmen richten ihre Strategien am Kunden aus und streben eine Maximierung des Kundennutzens an.

Für die Seelsorge bedeutet das, nicht selbst allein geltende Maßstäbe festzusetzen, was Seelsorge ist und was nicht, sondern die zu fragen, die Begegnung in Anspruch genommen oder erlebt haben, ob das gerade Seelsorge für sie war. War das etwas für dich? War das nützlich oder hilfreich für dich?

Jesus hat die Menschen da aufgesucht, wo sie waren. Geographisch, biografisch. Niemand brauchte damals bei Jesus Bedingungen erfüllen, sich würdig erweisen oder als gläubig bestehen. Er hat die Menschen so genommen, wie sie waren und ist den Menschen in den Situationen begegnet, in denen sie sich befanden. Und genau dort hat er getan, was getan werden musste. Gleichnishaft wird das in seiner Rede vom Weltgericht (Mt 25) deutlich. In Anlehnung an seine Worte können wir heute sicher sagen: Ich war online und ihr habt euch mit mir vernetzt.

Folgen wir ihm also digital?

Wir tun das, was wir tun nicht irgendwie. Wir begegnen einander nicht irgendwie. Wir tun das, was wir tun auf und in der Art und Weise, wie wir der Welt, den Menschen begegnen in Wort und Tat, in Kommunikation und Handeln. Im Englischen heißt es: The outer world is a reflection of the inner world. Und in unserer „inner world“ sind wir und ist der andere Mensch immer geliebtes Geschöpf. Wertvoll in Gottes Augen. Gerettet, rechtfertigt. Gottes Ebenbild. Ein Geschenk. Ein möglicher Engel. Ein Brief Gottes. Wie wunderbar wäre es, wenn sich diese Überzeugung in jeder Äußerung reflektieren würde – auch für uns selbst!

Es gibt eine Reihe von Fragen in der Bibel, deren Intention oder Fragerichtung sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch der Bücher zieht.

– Nachdem Adam und Eva von der Frucht des verbotenen Baumes im Garten Eden gegessen hatten, fragte Gott: Mensch, wo bist du? (Gen 3,9)
– Als Kain seinen Bruder Abel erschlagen hatte, fragte Gott: Wo ist dein Bruder Abel? (Gen 4,9)
– Als Jesus erkrankten Menschen begegnete, fragte er sie eigentlich immer: Was kann ich für dich tun? (Mk 10,51; Lk 18,41)
– Als ein Gesetzeslehrer Jesus fragte: Wer ist denn mein Nächster? Antwortete Jesus: Der, dem du helfen kannst.  Oder als Frage formuliert: Wem kann ich ein Mitmensch werden? (Lk 10,25ff.)

Mensch, wo bist du? Wo ist dein Bruder? Was kann ich für dich tun? Wem kann ich ein Mitmensch werden?

Häufig sind es rhetorische Fragen. Fragen, bei denen sich die Antwort wie von selbst aus dem Kontext ergibt, manchmal auch mit gesundem Menschenverstand wie von selbst beantwortet werden kann. Es sind Fragen, die in die Begegnung führen, die Menschen zusammenbringen, die uns einander zur Gabe und Aufgabe machen, uns aufeinander beziehen und uns an unsere Verantwortung für einander erinnern.

Es sind diese Fragen und viele Geschichten und Gleichnisse aus der Bibel, die die große Bewegung Gottes zur Welt, zur Begegnung mit der Schöpfung, mit den Menschen, erzählen und gleichzeitig uns mithineinnehmen wollen, diese Bewegung Gottes in der Bewegung von Mensch zu Mensch fortzusetzen. Individuell und gesellschaftlich, zumindest natürlich kirchlich, erst Recht seelsorgerlich. Menschen sollen sich nach Gottes Willen begegnen. Und ist das Internet, der digitale Raum, nicht ein wunderbarer, weil niedrigschwelliger Begegnungsraum?

Weil Menschen sich verbinden mögen, fungiert das Internet als Internetz zwischen ihnen. Es ist die moderne Infrastruktur heutiger Begegnungen und Beziehungen. Das ist es natürlich nicht nur. Aber in, mit und unter diesem Internet findet Kontakt statt. In ihm, mit (durch) ihm und unter seinen Möglichkeiten, Räumen, Zeiten und Bedingungen. Als Kirche haben wir hier die Chance, unsere seelsorgerliche Haltung miteinzubringen. Insofern ist Seelsorge tatsächlich interaktiv. Und darum ist Seelsorge im digitalen Raum so gut aufgehoben. Darum hat sie dort ihren Sitz, Sinn und Nutzen. Die spezifischen Bedingungen des Internet tun ihr gut. Gerade das Internet und die in ihr befindlichen medialen Angebote öffnen Türen zu den Menschen. Hier können sie selbst so (inter-)agieren, wie sie es selbst möchten und wie es ihnen entspricht.

Eine, vielleicht sogar die Grundfrage des Internet lautet: Wie kommen wir miteinander in Kontakt?
Und das ist doch eine zutiefst seelsorgerliche Frage.

Wir wissen, dass Botschaften auf verschiedene Ohren stoßen können. Wir wissen auch, dass es verschiedene Wege braucht, um die Botschaften hörbar werden zu lassen, weil wir mit verschiedenen Ohren hören. Niedrigschwelligkeit, also die Chance, möglichst viele verschiedene Ohren zu erreichen, erreichen wir durch eine Vielfalt an Angeboten. Insofern können wir nur sagen: Seelsorge im Internet – wo denn sonst?!

Wir sind alle Menschen, aber eben nicht alle gleich. Manche Menschen schreiben lieber. Andere möchten sehen und gesehen werden. Wieder andere schreiben erstmal, um dann das Medium zu wechseln. Andere sprechen am Telefon. Der digitale Raum hat all das und noch mehr im Angebot und zwar bei aller verbindlichen Unverbindlichkeit. Die kommunikative Grundhaltung bietet Freiraum. Ein Raum, in dem ich mich öffnen mag und öffnen kann. Wir brauchen das seelsorgerlich nur aufgreifen und uns darauf einstellen.[10]

Schließlich ist nicht gleich in der Lage zu einem Face-to-Face-Kontakt. Manche brauchen Anonymität, andere gerade nicht. Wir brauchen also unterschiedliche Türen zur Seelsorge, verschiedene Wege und Angebote und doch findet überall ähnliches statt: Wir fördern das Leben unseres Nächsten.

Als Menschen sind wir „wireless“ unterwegs. Hin und wieder brauchen wir eine Dockingstation, um zur Ruhe zu kommen, aufzuladen, sich neu zu orientieren, mit anderen zu verbinden, um weitergehen zu können. Es wäre ein Segen, wenn dieser Ort, wo wir Netz finden, auch die Kirche mit ihren Seelsorge- und Beratungsangeboten ist.


[1] Das Verständnis der Bibel von „Seele“ ist natürlich im Detail vielfältiger, besonders in den jüngeren Schriften. Trotzdem lässt sich der rote Faden von hebr. „nefesch“ und gr. „psyche“ im Kern so zusammenfassen.

[2] vgl. Hartmann Hinterhuber, Die Seele, Springer Verlag, S.77ff.

[3] Vgl. Drechsel, Seelsorgefelder, Evangelische Verlagsanstalt, S. 101: der Begriff Seelsorge umschreibt… „ein Reden und Handeln im Sinne des christlichen Glaubens“.

[4] Drechsel, Seelsorgefelder, S.113.

[5] ebendort

[6] Isabel Overmans, Der Stille eine Stimme, dem Dunkel ein Gesicht, in: Drechsel: Seelsorgefelder, S.34f.

[7] Was nicht bedeutet, dass es auch als einziger Anbieter richtig ist, dies entscheiden zu wollen.

[8] Vgl. Drechsel, Gemeindeseelsorge, Evangelische Verlagsanstalt, S.38f.

[9] Darum spricht Drechsel auch vom Seelsorgepartner und nicht Ratsuchenden, Klienten oder ähnlich.

[10] Die Erfahrung zeigt dabei, dass gerade die Paradoxie „Nähe durch Distanz“ es den Ratsuchenden ermöglicht, sich relativ schnell zu öffnen und auch sehr persönliche Themen anzusprechen.

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