Stellen Sie sich vor, es ist spät in der Nacht. Sie liegen mal wieder wach und fühlen sich von Ihren Gedanken überwältigt. Beim letzten Mal hatten Sie die Telefonseelsorge angerufen, doch heute zögern Sie. Ein erneuter Anruf fühlt sich wie ein Versagen an. Also greifen Sie zu Ihrem Smartphone, öffnen eine Seelsorge-App und beginnen, Ihre Gedanken in einen Chat zu tippen. Die Antworten aus der App sind gut. Es entwickelt sich ein konzentriertes Gespräch. Sie fühlen sich wahrgenommen, wertgeschätzt und verstanden. Sie schreiben noch etwas weiter, ehe Sie sich bedanken und verabschieden. Auf Ihrem Handy-Bildschirm erscheint noch ein Segenswort und das Gespräch ist beendet.
Bitte überlegen Sie: War das Seelsorge?
Und wäre es noch Seelsorge, wenn Sie wüssten, dass Ihr Gegenüber kein Mensch, sondern eine Künstliche Intelligenz (KI), ein Bot, gewesen ist? Und was würde es verändern, wenn Sie das nicht gewusst hätten? Wäre es dann für Sie immer noch oder erst recht Seelsorge?
Ob wir unser Smart-Home regeln, online einkaufen, die Bankgeschäfte per App durchführen oder mit den Liebsten per Videogespräch Kontakt halten, die Digitalisierung hat längst unseren Alltag erreicht und die Art und Weise tiefgreifend verändert, wie wir miteinander in Beziehung treten, unser Leben organisieren, wie wir kommunizieren, arbeiten, konsumieren und unsere Freizeit gestalten. Und damit beeinflusst sie auch die Seelsorge. Menschen wenden sich an seelsorgliche Angebote nicht nur in Präsenz, sondern mehr und mehr auch über die digitalen Kanäle E-Mail, Chat, Messenger, Social-Media oder Video. Und auch in die Präsenzseelsorge bringen Menschen ihre eigene Digitalisierung mit, ihr digitales Leben mit der Nutzung entsprechender Geräte, Apps und Netzwerke, und auch ihre digitalisierte Lebensweise, die geprägt ist von proaktiver Informationssuche, hoher Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sowie einer starken Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Menschen streben heutzutage nach Effizienz in ihrem Alltag, bevorzugen digitale Kommunikationsmittel und denken überregional, indem sie sich über weite Räume hinweg vernetzen und austauschen mögen. Diese Lebensweise prägt ihr Denken, Handeln und ihre Art, Beziehungen zu gestalten und mündet häufig in einer gewissen Anspruchshaltung, den alltäglichen Angeboten gegenüber, verbunden mit einer tief verwurzelten Anpassung an die Möglichkeiten der digitalen Welt. Für die traditionelle Seelsorge ist das eine Herausforderung. Wie kann Seelsorge mitwachsen? Wie muss sich Seelsorge in diesem Umfeld darstellen, ohne sich selbst zu verleugnen?
Vielleicht besteht der erste Schritt darin, die Realität der Digitalisierung als solche wertschätzend anzuerkennen. Digitalisierung ist gekommen, um zu bleiben. Wir werden hinter diesen Ist-Zustand nicht mehr zurückkehren. Und: Digitalisierung in der Seelsorge bedeutet nicht, dass das präsentische Gespräch, wie wir es kennen und schätzen, grundsätzlich ersetzt werden soll. Stattdessen kommen zusätzliche Kommunikationskanäle ins Angebot, die ihre je eigenen Bedingungen der Kontaktanbahnung und Prozessgestaltung mitbringen. Das erhöht die Möglichkeiten und Chancen der Seelsorge, in Beziehung zu Menschen zu treten. Die potentiellen Kontaktflächen werden vergrößert. Mehr Menschen bekommen Gelegenheit, Seelsorge in Anspruch zu nehmen und an den diversen Angeboten teilzuhaben. Und seelsorgliche Gespräche und Prozesse bekommen einen erweiterten Handlungsspielraum. Gleichzeitig werden natürlich auch die Grenzen der digitalen Seelsorge sichtbar, so wie es auch Grenzen der Seelsorge in Präsenz gibt. Es gehört zur seelsorglichen Kompetenz, abzuschätzen, welche Form und welcher Kanal für die anfragende Person und ihr Anliegen am besten passend sein könnte und wie mit Anfragen auf den verschiedenen Kanälen angemessen umzugehen ist. Dabei sind die Wünsche und Bedürfnisse der anfragenden Person zwingend zu berücksichtigen.
Erwartungen an den digitalen Raum
In der Regel sind für Menschen, die sich an eine digitale Seelsorge wenden, drei Erwartungen wichtig: sie wollen selbstbestimmt, anonym und sicher sein.
Selbstbestimmt zu sein bedeutet, dass Menschen aus einer Auswahl an Möglichkeiten den Seelsorge-Kanal auswählen können, der ihren persönlichen Kommunikationsvorlieben und ihrem individuellen Thema und Kontext am besten entspricht. Die Wahl des geeigneten Kanals basiert dabei auf sehr unterschiedlichen Kriterien, die in der Regel in den persönlichen Vorlieben für eine bestimmte Kommunikationsform (schriftlich E-Mail oder Chat, mündlich, bildlich), den Kommunikationsbedingungen (anonym, teilanonym, offen) und der Vertrautheit mit den Seelsorgenden (bekannt, unbekannt) begründet sind. Ist der Kanal gewählt, wird er auch nur ungerne wieder verlassen. Die Entscheidung für ein digitales Seelsorge-Angebot folgt somit nicht zwangsläufig den Kriterien, die Seelsorge-Anbieter üblicherweise für sich festlegen (z.B. Datenschutz, Qualifikation). Leitend ist vielmehr die individuelle Wahrnehmung und subjektive Einschätzung der anfragenden Person, die auch für Anbieter maßgebend sein sollte, um eine wirklich effektive und unterstützende Begleitung zu ermöglichen. Hieraus lassen sich auch zugleich Hinweise für die Gestaltung von digitalen Seelsorge-Angeboten ableiten. So sollten zum Beispiel Webseiten und Systeme flexibel anpassbar sein, um verschiedene Kommunikationsformen (wie Chat, Videoanruf oder E-Mail) sowie unterschiedliche Sicherheits- und Anonymitätsoptionen zu unterstützen. Eine niedrigschwellige Erreichbarkeit ist ebenfalls wichtig, um den vielfältigen Bedürfnissen gerecht zu werden. So wird mehr Menschen Teilhabe an Seelsorge ermöglicht, als in vielen traditionellen Angeboten, denn im digitalen Raum haben auch die Menschen eine Möglichkeit sich auszusprechen, die sich nicht an spezielle Öffnungszeiten halten können oder wollen oder Schwierigkeiten mit der Sprache, dem Sprechen oder Hören haben oder denen es aufgrund einer psychischen Erkrankung oder eines Handicaps nicht möglich ist, einen anderen Menschen in Präsenz zu treffen.
Es ist entscheidend, dass digitale Seelsorge-Angebote nicht nur funktional, sondern auch intuitiv und einladend gestaltet sind, um die Hemmschwelle für Ratsuchende zu senken und eine vertrauensvolle Kommunikation zu fördern. Gleichzeitig sollte Seelsorge nicht nur auf eigens dafür eingerichteten Webseiten und Portalen angeboten werden. Auch auf Social-Media-Seiten oder der Videoplattform ‚YouTube‘ können Menschen Seelsorge finden und für sich nutzen.
Digitale Seelsorge ist in weiten Teilen schriftliche Seelsorge. Ob per E-Mail, Chat oder Direktnachricht, es bleibt die herausfordernde Aufgabe für die Seelsorge, synchron oder asynchron auf ein Anliegen zu reagieren, einen Auftrag zu erkennen und Gedanken, Emotionen, Affekte in Worte zu fassen und das Gegenüber in dieser Verschriftlichung eigener Themen zu begleiten. Schriftliche Seelsorge fördert die persönliche Reflexion und ist oft schon allein dadurch zielführend und hilfreich.
Da Gestik, Mimik und Körperlichkeit in der schriftlichen Seelsorge fehlen, müssen diese, soweit nötig, verschriftlich werden. Manchmal sind da Emojis und Zeichensetzungen ergänzend hilfreich, manchmal sorgen diese erst für Missverständnisse.
Im Chat wird in der Regel in einer Art Sprechschreibe kommuniziert, was bedeutet, dass die Worte so geschrieben werden, wie sie einem in die Finger fließen, inklusive orthographischer oder grammatischer Fehler. Interjektionen (Uff, Puh) und parasprachliche Äußerungen geben der Kommunikation eine zusätzliche emotionale Dimension, die versucht, die schriftliche Form der gesprochenen Sprache anzunähern und dadurch persönlicher und unmittelbarer zu gestalten.
Dass die Kommunikation, zumindest per E-Mail, noch länger nachzulesen sein wird (von Screenshots ganz zu schweigen), verändert oft die Haltung der Seelsorgenden. Das Gespräch ist dokumentiert und allein diese Tatsache kann für Seelsorgende zu einer veränderten Haltung oder Reaktion im Gespräch führen. Es macht vorsichtiger, achtsamer in der Wortwahl und sensibler in der Fragestellung.
Anders wird es erst, wenn offenere Kanäle genutzt werden, wie Gruppenchats oder Foren. Hier können über das Zweiergespräch hinaus weitere Menschen am Gespräch teilnehmen, auch wenn sie selbst vielleicht in diesem Moment gar nicht ebenfalls ‚Ratsuchende‘ sind und kein eigenes Thema einbringen. Man ist gemeinsam im selben Seelsorge-Raum und darum für diese Zeit ‚in einem Boot‘ unterwegs. Es entsteht schnell eine gewisse Atmosphäre der Community, die von Seelsorge gerne mitgenutzt und gefördert werden darf. Man hört sich zu, reagiert aufeinander und teilt aktiv oder passiv miteinander Zeit, ist in unterschiedlicher Dichte auch füreinander da. Diese fließende Gemeinschaft wäre in Präsenz sicher kaum darstellbar, bietet online aber einen Raum, in dem die Menschen sich frei so bewegen und aufhalten können, wie sie es für sich selbst als passend und wohltuend empfinden. Und wer nicht öffentlich schreiben mag, tut das ‚unter dem Tisch‘ in direkten Nachrichten an eine Person im Chat, ohne dass andere mitlesen können. Eine Moderation sorgt dafür, dass die Gruppengespräche in einem respektvollen Rahmen bleiben und jede Person wahrgenommen wird. Die Moderation reagiert auch auf Beschwerden oder ermutigt zum Einzelgespräch mit anwesenden Seelsorgenden.
Schriftliche Seelsorge ist oft verzögerte Kommunikation. Nicht nur im E-Mail-Wechsel, auch im Chat gibt es Pausen oder Ablenkungen, vor allem auf Seiten der anfragenden Personen. Wenn parallel zum Gespräch die Kinder ins Bett gebracht werden oder ein Anruf angenommen wird, verändert das den Fluss des Gespräches und erfordert Geduld und auch Selbstsicherheit der Seelsorge. Je länger diese Pausen dauern, desto mehr fragen sich Seelsorgende, ob die Person noch anwesend ist oder das Gespräch technisch bedingt oder aus eigenem Wunsch beendet wurde.
Digitale Seelsorge ist in weiten Teilen anonyme Seelsorge. Ob die anfragende Person männlich, weiblich oder divers gelesen werden möchte ist unklar und muss, wie alle weiteren Identifikationselemente (Alter, Herkunft, persönliche Geschichte usw.), wenn nötig erfragt werden. Doch diese Anonymität ist gewollt und wird von den meisten Menschen auch bewusst gewählt. Per Telefon wäre die Stimme zu hören, per Video das Gesicht zu sehen und die Stimme zu hören. Es ist der anonyme Kontakt, der hilft, sich zu öffnen und sehr persönliche, ja intime und auch schambehaftete Themen ungezwungen ansprechen zu können. So sind Missbrauchserfahrungen, suizidale Ankündigungen, stoffgebundene Abhängigkeiten, überwältigende Trauer oder Einsamkeit immer wieder Inhalt der Schreibgespräche. Die schriftliche Seelsorge bietet die Möglichkeit, in einem geschützten Raum schnell und anonym Hilfe zu suchen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. So, wie man unerkannt den Chatraum betreten hat, so kann man ihn auch wieder verlassen. Das gibt viel Freiheit und Mut, offen, direkt und von Herzen zu schreiben.
Manche Menschen möchten jedoch wissen, mit wem sie schreiben, auch wenn sie selbst unerkannt bleiben wollen. Angebote, wie die Chatseelsorge (vgl. https://chatseelsorge.evlka.de/) kommen diesem Wunsch entgegen. Hier zeigen sich Seelsorgende mit Bild, (Vor-)Namen und kurzer Selbstvorstellung. Bei der Chatseelsorge weiß man also mit wem man schreibt, und man kann sich aus den abendlich anwesenden Seelsorgenden die Person aussuchen, die einem am ehesten zusagt. Wer, auch als Seelsorgende, die volle Anonymität beider Gesprächspartner vorzieht, wendet sich vielleicht eher an das Online-Angebot der Telefonseelsorge (https://online.telefonseelsorge.de/). Im Internet können beide Angebote geschwisterlich neben einander stehen. Keines ist dem anderen überlegen, sondern die Unterschiede respektieren die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen, die Seelsorge in Anspruch nehmen wollen.
In der digitalen Seelsorge dürfen Seelsorgende lernen, wie sie auch ohne physische Präsenz eine Atmosphäre schaffen, in der sich Ratsuchende sicher und verstanden fühlen. Das bedeutet neben den schon erwähnten sprachlichen Anforderungen auch, dass sie die Deutungshoheit über den Kontakt beim Gegenüber lassen. Nicht (nur) die Seelsorgenden entscheiden, ob dieser Kontakt Seelsorge ist. Ob der Kontakt hilfreich ist, was daran hilfreich ist und ob es notwendigerweise überhaupt hilfreich zu sein hat, diese Definitionen liegen wesentlich bei den anfragenden Personen. Das lässt Seelsorgende mitunter etwas hilflos zurück, da sie weniger direkten Einfluss auf den Prozess nehmen können. Gleichzeitig sorgt es aber auch für eine Art Demokratisierung der Seelsorge. Der Prozess wird partizipativer und stärker auf ihre individuellen Bedürfnisse und Wahrnehmungen abgestimmt. Diese Entwicklung kann die Qualität der Seelsorge steigern, da sie die Bedürfnisse der Ratsuchenden in den Mittelpunkt stellt und deren Selbstbestimmung stärkt.
Und natürlich bedeutet Sicherheit auch Datenschutz. In der Seelsorge werden viele personenbezogene Daten preisgegeben. Ein guter, möglichst lückenloser Datenschutz ist darum wichtig. Gleichzeitig nutzen viele Menschen aber auch Messengerdienste, wie Whatsapp oder Signal und Social-Media-Angebote, wie Facebook oder Instagram, um sich nach Lösungen und Erleichterungen ihrer Probleme zu erkundigen. Manche lesen nur stumm mit und der Algorithmus registriert ihr Interesse an diesem Thema und fügt diese Informationen ihrem Nutzerprofil hinzu. Andere schreiben selbst Beiträge, kommentieren Posts oder reagieren auf andere. Der Datenschutz rückt hier in den Hintergrund. Menschen sind bereit, sich zu öffnen, auch wenn sie wissen oder es erahnen, dass ganze Konzerne mitlesen und diese Daten auswerten und monetarisieren. Die Seelsorge muss diese Herausforderungen konzeptionell bedenken: Wird unter diesen Bedingungen der Kontaktwunsch überhaupt angenommen? Wird inhaltlich geantwortet oder ausschließlich auf einen datensicheren Kanal verwiesen?
Es ist nicht hilfreich und für die Seelsorge nicht vertrauensfördernd, wenn ein Gesprächswunsch abgelehnt wird, weil der Kommunikationsweg nicht datenschutzkonform sein könnte. Wir brauchen beides: einen guten Datenschutz in institutionalisierten Angeboten, in denen genau diese Vertraulichkeit und Sicherheit eines der wesentlichen und verlässlichen Qualitätsmerkmale ist. Gleichzeitig brauchen wir aber auch den Mut, dahin zu gehen, wo es individuell-menschlich und gesellschaftlich drückt, wo Datenschutz kaum gewährleistet werden kann. Mit anderen Worten, wir brauchen das sichere Krankenhaus in der Stadt mit aller Infrastruktur und gleichzeitig die waghalsigen Buschpiloten, die sich nach draußen wagen und mutig improvisieren.
Es gibt noch eine vierte Bedingung, die Seelsorge im digitalen Raum prägt. Es ist der Wunsch vieler Menschen nach Autonomie.
Autonomie ist hier durchaus etwas anderes als Selbstbestimmtheit und meint, den Wunsch, sich selbst informieren und auch helfen zu wollen, ohne gleich mit einem anderen Menschen in Kontakt treten zu müssen.
Menschen googeln ihre Symptome, ihre Sorgen und Probleme. Sie forschen nach Lösungen, lesen auf Blogs und in Foren, fragen ChatGPT oder in Gruppen auf Facebook oder bei Influencern auf Instagram nach. Manche tun das, ohne je ein Seelsorgegespräch zu suchen, andere nutzen das als Vorbereitung, manche auch währenddessen und andere wiederum überprüfen die Aussagen der Seelsorge dann anschließend entsprechend. Menschen mögen sich selbstbestimmt um sich selbst kümmern und so entscheiden sie auch mit, was Seelsorge eigentlich ist.
Und so wird ein Bild auf Instagram oder ein Video auf YouTube zur seelsorglichen Erfahrung, von der Menschen sagen: das habe ich heute gebraucht, das hat mir gutgetan, das nutze ich erneut für mich, das kam zur rechten Zeit in mein Leben.
Traditionell geprägt fragen wir vielleicht: Ist das denn Seelsorge, auch wenn kein Gespräch, schon gar nicht mit einem Menschen stattgefunden hat? Digital ermutigt können wir antworten: Ja, auf jeden Fall, denn die Menschen erleben es für sich selbst so. Wir brauchen im Digitalen Raum eine erweiterte Dimension dieses guten, alten Begriffes der Seelsorge, der die neuen Möglichkeiten wertschätzend miteinschließt und damit auch die Menschen, die diese Möglichkeiten für sich nutzen. Eine mögliche erweiterte Definition von Seelsorge im Digitalen Raum könnte so lauten:
Digitale Seelsorge schließt sämtliche Formen der Kommunikation ein, die auf die Infrastruktur des Internets angewiesen sind und die sowohl synchron/asynchron textgebunden also auch synchron und textungebunden stattfinden können. Ebenso sind Mischformen denkbar.
Im Übrigen: Unsere gesamte Körperlichkeit und der Umgang damit darf im digitalen Raum neu gedacht werden. Wir bestehen ja nicht nur aus denkenden Gehirnen, sondern haben einen Körper, der sich in der digitalen Seelsorge hinter einer Tastatur oder einer Kamera aufhält und manchmal dahinter versteckt. Gleichzeitig spielt der Körper und unser Verhältnis zu ihm aber eine große Rolle sowohl in der Entstehung als auch in der Lösung von Herausforderungen und Problemen. Wie also kann der Körper entsprechend in den Seelsorgekontakt einbezogen werden? Wie kann er in diesem entkörperlichten, anonymen Raum seinen Raum bekommen und als Ressource gewonnen werden? Selbst im Videogespräch kann das schwierig sein, da zwar wenigstens der Oberkörper sichtbar wird, aber der Großteil des Menschen verborgen bleibt. Wir könnten auf die Zukunft warten, auf haptische Technologien, die taktiles Feedback ermöglichen, um Berührungen und körperliche Empfindungen im digitalen Raum zu simulieren. Wir können aber auch durch geeignete Fragen, einen geschützten Raum eröffnen, in dem die anfragende Person (wieder) in einen Kontakt zu ihrem eigenen Körper kommt. Wie fühlt sich dein Körper gerade an, während wir sprechen, und was könnte das über deine aktuelle Situation aussagen? Gibt es bestimmte Stellen in deinem Körper, die sich gerade besonders bemerkbar machen? Was könnte diese Empfindung bedeuten? Wie könntest du deinem Körper in diesem Moment etwas Gutes tun, um dich vielleicht ein wenig wohler zu fühlen?
Es ist klar, dass der Wunsch nach Autonomie durch anfragende Personen auch kritisch zu betrachten ist. Nicht alle Informationen im Internet sind verlässlich oder qualitativ hochwertig. Wie können Menschen in Krisensituationen das wirklich Gute und Hilfreiche finden? Die Vielzahl an unregulierten Quellen birgt das Risiko, dass Ratsuchende in die Irre geführt werden. Wenn Menschen ausschließlich auf Selbsthilfe im Internet setzen, könnten sie zudem im Umgang mit ihren Sorgen und Problemen allein bleiben und den Mehrwert eines zwischenmenschlichen Austauschs verpassen. Darüber hinaus stellt der mangelhafte Schutz personenbezogener Daten auf Social-Media-Plattformen, in Foren oder durch KI-basierte Bots (z. B. ChatGPT) eine Gefahr dar, die zu Datenmissbrauch und potenziellen Nachteilen für die betroffenen Personen führen kann.
Die verwendete Technik
Durch Handys hat sich unser Kontakt zur Welt grundlegend verändert. Das Smartphone ist unsere Schnittstelle zu nahezu allen Aspekten unseres täglichen Lebens – von Kommunikation und sozialen Interaktionen bis hin zur Informationsbeschaffung, Navigation, Unterhaltung und persönlichem Management. Das verändert natürlich auch die Seelsorge. Smartphones ermöglichen es Menschen, jederzeit und von überall Seelsorge in Anspruch zu nehmen. Ob in Bus oder Bahn, während Wartezeiten oder als Sprachnachricht beim Autofahren, die mobile Digitalisierung senkt die Hemmschwelle und fördert gleichzeitig eine gewisse Anspruchshaltung. Eine Anfrage, die immer und überall abgesendet werden kann, verlangt nach einer raschen Antwort. Das kann Seelsorge unter Druck setzen. Muss Seelsorge jetzt auch immer und überall erreichbar sein? Für Menschen in abgelegenen Gebieten oder für diejenigen, die aus verschiedenen Gründen ihr Zuhause nicht verlassen können, wäre das vorteilhaft. Auf der einen Seite kann durch diese ‚digitale Omnipräsenz’ in Krisensituationen rasch Unterstützung angeboten werden, was die Effektivität der Seelsorge, insbesondere bei zeitkritischen Anliegen, erheblich erhöhen kann. Auf der anderen Seite haben auch Seelsorgende Grenzen und brauchen Pausen und der gegenwärtige Bedarf übersteigt bei weitem die Kapazitäten. Hier eine gute Balance zu finden kann nicht nur Aufgabe jedes einzelnen Seelsorgenden sein, sondern muss auch institutionell reflektiert und geregelt werden.
Das Smartphone vereint sämtliche Kommunikationskanäle in einem Gerät – von Textnachrichten und E-Mails bis hin zu Videoanrufen. In Messengerapps können sich diese Kanäle auch munter mischen. Dies erlaubt es Seelsorgenden, flexibel auf die Bedürfnisse der Ratsuchenden einzugehen und den passenden Kommunikationskanal zu wählen. Es ist aber auch eine hohe Kompetenz im Kanalwechsel nötig, denn ein schriftliches Gespräch ist anders als eines über Sprachnachrichten oder Videokamera.
Vielleicht wird das Smartphone dafür sorgen, dass Seelsorge in Zukunft zunehmend als ein nahtloser Bestandteil der alltäglichen Kommunikation genutzt wird. Vielleicht wird es dann gar nicht so sehr darum gehen, lange Gespräche miteinander zu führen, sondern Seelsorge wird eher in kürzeren aber dafür regelmäßigeren Dosen stattfinden, fragmentierter, aber auch kontinuierlicher. Der schnelle und unkomplizierte Kontakt über das Smartphone kann zu einer veränderten Art von Beziehung zwischen Seelsorge und anfragenden Personen führen. Es wird Aufgabe der Seelsorge sein, hier für gleichbleibende Qualität im Kontakt zu sorgen.
Smartphones bieten auch Zugang zu einer Vielzahl von Ressourcen. Apps stellen seelsorgerische Inhalte, Meditationen, Gebete und andere unterstützende Materialien zur Verfügung, die ergänzend zur direkten Seelsorge genutzt werden können. Seelsorgende können über Social-Media und andere Online-Kanäle hilfreiche Informationen und ermutigende Botschaften verbreiten.
Und schließlich: Durch Smartphones kann schneller auf Hilferufe reagiert werden, was in akuten Krisensituationen lebensrettend sein kann (vgl. App ‚Krisenkompass’). Moderne Beratungs-Apps (vgl. App ‚Resilyou’) bieten manchmal auch schon Dienste wie Chatbots oder automatisierte Antworten, die sofortige Unterstützung und eine Weiterleitung an menschliche Kontakte ermöglichen. Die Seelsorge der Kirchen darf in diesem Feld gerne ebenfalls aktiv werden.
Darüber hinaus ermöglicht die Nutzung von Daten und Analysen eine personalisierte Unterstützung. Regelmäßige Erinnerungen und Benachrichtigungen helfen den Nutzerinnen und Nutzern, sich an ihre spirituellen und emotionalen Bedürfnisse zu erinnern und kontinuierlich Unterstützung in Anspruch zu nehmen (vgl. App ‚Evermore’).
Zur verwendeten Technik möchte ich auch die Algorithmen zählen, die im Hintergrund arbeiten, wenn wir eine KI nutzen, eine Suchmaschine bedienen oder uns auf Social-Media-Plattformen bewegen. Algorithmen können eingesetzt werden, um seelsorgliche Angebote gezielt denjenigen Nutzern anzuzeigen, die vermutlich Interesse daran haben könnten. Durch die Analyse von Verhaltensdaten, wie etwa den besuchten Seiten, den Beiträgen, die Nutzer liken und teilen, oder den verwendeten Suchbegriffen, können potenzielle Ratsuchende identifiziert und ihnen entsprechende Inhalte oder Online-Communities vorgeschlagen werden, wenn sie denn nicht zu allgemeine Informationen bieten, die wenig individuelle Relevanz haben. Dies kann sowohl für die Angebote als auch für die Nutzenden hilfreich sein, da relevante Ressourcen und weiterführende Informationen, etwa zur Stigma-Reduktion, Prävention oder zu unterstützenden Netzwerken, gezielt empfohlen werden können. Algorithmen können zudem im Nutzerfeedback dazu beitragen, seelsorgliche Angebote kontinuierlich zu verbessern.
Aber natürlich ist Vorsicht geboten: Algorithmen können unbeabsichtigte Vorurteile verstärken, wenn die zugrunde liegenden Daten unausgewogen oder verzerrt sind (‚Bias’), was zu ungerechten oder diskriminierenden Ergebnissen führen kann. Zudem besteht die Gefahr, dass Algorithmen in der Seelsorge die Privatsphäre und Vertraulichkeit von Informationen gefährden.
Mediatisierung
Was wären wir ohne das Internet? Und wie hat das früher eigentlich alles geklappt? Schauen Sie auf Reisen auch erstmal, ob es ‚Netz gibt’ oder wie der WLAN-Schlüssel lautet? Wir leben in mediatisierten Lebenswelten. Alltagshandlungen werden zunehmend mit digitalen Technologien verknüpft. Analog und digital ergänzen sich nicht nur, sondern vermischen und überlappen sich. Das Leben in seiner Vielfalt und Gesamtheit wird zunehmend digitalisiert und somit mediatisiert. Wie schon erwähnt, für viele Alltagshandlungen benutzen wir mittlerweile digitale Geräte und damit auch das Internet. Es scheint, als sei das Internet das Betriebssystem in, mit und unter dem unsere Gesellschaft läuft. Menschliche Interaktionen mit anderen und auch mit uns selbst werden zunehmend durch digitale Medien und Kommunikationstechnologien vermittelt. Dabei kommen Messenger, Chats, E-Mails, soziale Medien sowie Wearables, Smartwatches, Tracker und Apps zum Einsatz und vermitteln uns mitunter eine gewisse Ubiquität. Wir können vor Ort und gleichzeitig an einem anderen Ort, sogar einem anderen Kontinent sein. Wir sind freier und selbstbestimmter, aber zugleich auch abhängiger von großen Konzernen und dem Stromnetz. Das wirft Fragen nach Datenschutz, digitaler Teilhabe und Teilgabe oder nach der Verantwortung großer Technologieunternehmen auf und muss weiter kritisch begleitet werden. Aber die Realität zeigt, dass viele Menschen in ihrer persönlichen Kommunikation keinen qualitativen Unterschied mehr zwischen analogem und digitalem Austausch erleben. Beides steht gleichberechtigt nebeneinander, trotz der Unterschiede und dem Fehlen von Gestik, Mimik und Körperlichkeit. On- und Offline werden munter miteinander verbunden und vermengt. Für Ungeübte wirkt das oberflächlich und zerstreut und gänzlich ungeeignet für etwas so Wichtiges und auch Ernstes wie die Seelsorge. Gleichzeitig zeigt die reale Erfahrung, wie hilfreich es für viele Menschen ist. Die hohe Nachfrage spricht Bände. Als Seelsorgende sind wir herausgefordert neue Kompetenzen und kreative Wege in Qualität und Tiefe unserer seelsorglichen Beziehungen in dieser modernen Gesellschaft zu suchen und zu finden.
Und manchmal kommt alles zusammen. Das Eine blended in das Andere über: ‚blended Seelsorge’. Da kann das Analoge digitaler werden und das Digitale analog angereichert werden, zum Beispiel indem digitale Boards, Apps oder Hörbücher in die präsentische Seelsorge eingebaut werden oder präsentische Elemente (Spaziergänge, Körperübungen, Gegenstände aus Natur und Haushalt) in den digitalen Raum.
Und ja, manches fordert uns sehr heraus. Zum Beispiel die Idee, sich mit Hilfe von Apps oder auch KI selbst zu helfen – Selbst-Seelsorge oder ‚Seelsorge ohne Seelsorger oder Seelsorgerin’. Aber wenn die technischen, medialen Möglichkeiten die Interaktion auch mit uns selbst neu definieren und prägen, dann gilt das auch für die Selbstfürsorge im Sinne der Seelsorge, ohne dass Menschen das Gefühl entwickeln, letztlich doch mit ihren Themen alleingelassen zu sein.
Neue Fragen werden gestellt: Wie geht Empathie, Nähe, Gemeinschaft, Vergebung online? Wer ist Gott in der virtuellen Welt? Was bedeutet Identität, wenn ich als mein Avatar unterwegs bin? Welche ethischen Fragen werden gestellt und welche Antworten geben wir?
Das alles fordert von der Seelsorge ein hohes Maß an Selbstreflexion, Evaluation und Aus- und Fortbildung, in den digitalen Möglichkeiten, in Psychologie, in Medien- und Kommunikationskompetenz, in der der Bereitschaft, sich immer wieder neu auf technische und gesellschaftliche Neuerungen einzulassen, denn die Menschen bringen ihre eigene digitale Präsenz und Geschichte immer mit, und benutzen manches auch zeitgleich: sie chatten mit der Seelsorgerin, surfen auf Social-Media, besprechen mit einer KI was sie mit der Seelsorgerin besprechen und schreiben eine Messenger-Nachricht an eine Freundin.
Kompetenzen und Haltungen
Die Entwicklung, Schulung und Evaluation entsprechender Kompetenzen sind essenziell, um in der digitalen Seelsorge wirksam zu sein. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Digitalkompetenz, die nicht nur technisches Wissen zu Geräten und Programmen umfasst, sondern auch den sicheren und effektiven Umgang mit digitalen Technologien und Kommunikationskanälen. Sie beinhaltet die Fähigkeit, in digitalen Umgebungen angemessene Kommunikations- und Gesprächsführungsfähigkeiten zu entwickeln und zu praktizieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Gewährleistung von Vertraulichkeit und Datenschutz, sodass sich die ratsuchenden Personen in der digitalen Umgebung sicher und geschützt fühlen.
In der grenzenlosen Welt des Internets begegnen wir einer Vielfalt an Herkünften und Lebenswelten. Eine ‚cultural awareness’, also kulturelle Achtsamkeit und Offenheit ist daher eine wesentliche Kompetenz in der digitalen Seelsorge.
Unabdingbar bleibt die Lese- und Schreibkompetenz, die es ermöglicht, die Bedürfnisse und Anliegen der Ratsuchenden angemessen zu erfassen und in die Kommunikation einzubringen. Die Fähigkeit zur Krisenbewältigung ist ebenfalls von großer Bedeutung. Da sich Menschen möglicherweise in akuten Krisen an digitale Seelsorgeangebote wenden. Dazu gehört auch die Kenntnis darüber, wann und wie man auf lokale Ressourcen oder Notdienste verweist.
Eine neue Kompetenz ist die sogenannte Promptingkompetenz, die sowohl für ratgebende als auch für ratsuchende Menschen relevant ist. Wir helfen Menschen, sich selbst zu helfen, indem wir ihnen zeigen, wie sie die Möglichkeiten der Digitalisierung, hier spezielle der Künstlichen Intelligenz, für sich nutzen können. Wie schreibe ich mein Anliegen so in eine Arbeitsaufforderung an die KI, dass diese mir hilfreiche Antworten gibt?
Dabei geht es weniger um technische Fertigkeiten, sondern vielmehr um eine persönliche Problemlösekompetenz mittels digitaler Möglichkeiten. Es geht um Selbstwirksamkeit und das Erleben, dass man auch in schwierigen Zeiten und bei Problemen für sich selbst einstehen und sorgen kann. Für Seelsorgende gehört dazu auch der Wunsch, dass Menschen sich spirituell ausdrücken können und Spiritualität als Kraftquelle und Ressource für sich entdecken und einsetzen.
All diese Fähigkeiten müssen erlernt, erprobt und reflektiert werden. Niemand wird von heute auf morgen ein guter Seelsorger oder eine gute Seelsorgerin. Seelsorgekompetenz entsteht durch fundierte Aus- und Fortbildung. Dazu gehören heute mehr denn je Kenntnisse über psychische Herausforderungen und Störungen sowie passende Interventionen zur Förderung der seelischen Gesundheit. Der digitale Raum scheint besonders Menschen mit psychischen Herausforderungen anzuziehen, weshalb Seelsorge hier entsprechend reagieren und kompetent sortieren können muss, ohne dabei eine therapeutische Rolle zu übernehmen. Eine salutogene seelsorgliche Haltung, die dabei unterstützt, das Leben in seiner Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit zu entdecken, kann ein guter Kompass sein.
Künstliche Intelligenz
Mit der zunehmenden Verbreitung und Popularität von KI-Sprach-Anwendungen wie ChatGPT, Copilot oder Gemini werden sie zunehmend auch für Alltags- und Lebensfragen genutzt. Und auch, wenn diese Anwendungen dafür gar nicht ausgelegt sind, sind die Antworten so gut, dass Seelsorge sich fragen muss: Was ist unser menschlicher Vorteil? Was können wir bieten, was eine stets verfügbare, freundliche KI-Stimme, die nie müde wird und auf alles sofort eine Antwort hat, nicht leisten kann?
Vielleicht ist die größte Veränderung, die Künstliche Intelligenz für die Seelsorge bedeutet, dass wir als Menschen aufgefordert werden, nach uns selbst zu fragen. Wer sind wir? Was können wir und wirklich nur wir?
Und vielleicht ist das größte Geschenk, dass KI uns in diesem Zusammenhang machen kann, die Erkenntnis und Wertschätzung unserer Schwächen. Im Gegensatz zur KI können wir nämlich nicht alles. Wir wissen nicht auf jede Frage sofort eine Antwort. Wir Menschen sind sprachlos, überwältigt, von Emotionen geschüttelt, ängstlich, nervös und manchmal sind wir einfach nur müde. Künstliche Intelligenz kann uns hier nicht das Wasser reichen und vielleicht wird es das nie können.
Für die Seelsorge sind unsere Menschlichkeiten relevante Begabungen. Unsere Empathie ist nicht simuliert, sondern kommt von Herzen. Und unser Schweigen kann genau der Schlüssel zur Lösung sein.
Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird, aber im Moment kann KI das noch nicht. Im Gegenteil. Darum können wir ganz ohne narzisstische Kränkung, die Möglichkeiten der KI für uns nutzen:
Vielleicht helfen KI-Anwendungen Seelsorge rund um die Uhr verfügbar zu machen, besonders in Zeiten, in denen menschliche Seelsorgende nicht erreichbar sind. Dies wäre für Menschen in akuten Krisensituationen oder in Momenten der Einsamkeit und Sorge eine wertvolle Hilfe. KI-gestützte Chatbots könnten erste emotionale Hilfe bieten, einfache Informationen weitergeben oder an professionelle Hilfe weiterleiten. Durch die Analyse großer Datenmengen könnte KI außerdem Muster in der Kommunikation und im Verhalten von Ratsuchenden erkennen, die für menschliche Seelsorgende möglicherweise nicht sofort ersichtlich sind. Dies könnte dazu beitragen, frühzeitig auf Anzeichen von Erkrankungen, Stress oder anderen psychischen Problemen aufmerksam zu machen.
KI könnte Seelsorgende inspirieren und festgefahrenen Gesprächen neue Ideen liefern, die auf den individuellen Bedürfnissen und Vorlieben der anfragenden Personen basieren. Und natürlich könnte KI Seelsorgende bei administrativen Aufgaben unterstützen, wie etwa beim Organisieren von Terminen oder dem Verwalten von Notizen und Mitschriften.
Auch in der Aus- und Fortbildung von Seelsorgenden könnte KI simulationsbasierte Trainings anbieten, bei denen Seelsorgende in einem kontrollierten, aber dennoch realistischen Umfeld üben und Feedback zu ihren Methoden und ihrer Gesprächsführung erhalten können. KI-gestützte Systeme könnten außerdem Zugang zu einer Fülle von Informationen und Ressourcen bieten, um das Wissen der Seelsorgenden ständig zu erweitern. KI könnte als Rollenspielpartner fungieren, indem sie die Rolle einer ratsuchenden Person übernimmt, die sich an die Seelsorge wendet. Seelsorgende könnten so Gesprächseinstiege, Auftragsklärung oder Zielformulierungen üben, oder sogar ein komplettes Gespräch simulieren. Genauso könnte KI als Reflexionshilfe genutzt werden, indem sie Feedback zur Gesprächsführung gibt, bessere Fragen vorschlägt und zur Nachbesprechung von Gesprächen zur Verfügung steht. Durch KI kann das eigene Repertoire erweitert werden, indem neue Fragen, Übungen, Gebete oder Interventionen ausprobiert und trainiert werden. Zudem könnte KI als Übersetzungshilfe in Leichte Sprache, in Fremdsprachen oder Gebärdensprache dienen, barrierearme Kommunikation und Inklusion fördern, Sprachnachrichten verschriftlichen und schriftliche Nachrichten vorlesen, sowie (lange) E-Mails oder Gesprächsverläufe zusammenfassen und die Kerninhalte herausarbeiten.
Alle diese Möglichkeiten zur Nutzung von KI in der Seelsorge setzen natürlich einen entsprechenden Datenschutz voraus. Dieser kann zum Beispiel durch fiktive Szenarien in der Ausbildung oder entsprechende Anonymisierung/Pseudonymisierung für Reflexion, Supervision und Intervision erreicht werden. Oder auch durch eine lokale KI-Instanz auf kircheneigenen Servern.
Fassen wir zusammen
Menschen vertrauen dem digitalen Raum und bewegen sich dort gerne, um sich zu vernetzen, auszutauschen und Kontakte zu knüpfen. Dieser Austausch reicht von banalen Alltäglichkeiten bis hin zu intimen und persönlichen Informationen, Problemen und Herausforderungen des Lebens. Dabei nutzen sie sowohl spezielle, datensichere Plattformen und Webseiten als auch weniger geschützte Social-Media-Angebote. Der digitale Raum ist somit ein natürlicher Ort für Seelsorge und bietet eine wertvolle Kontaktfläche für Kirche und ihre helfenden, beratenden Angebote.
Apps spielen dabei eine zentrale Rolle: Sie leiten Menschen an und ermutigen sie zu einem tieferen Kontakt mit sich selbst, mit anderen und auch mit Gott. Datenschutz ist wichtig, aber nicht um jeden Preis – hohe Hürden führen dazu, dass Menschen alternative, vielleicht weniger sichere Angebote wählen. Barrierearmut und intuitive Navigation sind daher entscheidende Qualitätsmerkmale.
Seelsorge findet zunehmend über digitale Plattformen statt, die Gespräche ermöglichen, ohne dass physische Anwesenheit erforderlich ist. Apps bieten Hilfe zur Selbsthilfe, ohne dass Seelsorgende direkt beteiligt sind. Social-Media-Posts ermöglichen zeit- und ortsunabhängige Kommunikation, oft ohne direkte menschliche Interaktion.
Digitale Seelsorge erreicht Menschen, die aufgrund von Mobilitätsproblemen, psychischen Herausforderungen, geografischer Isolation oder Zeitbeschränkungen keinen Zugang zu herkömmlichen Seelsorgeangeboten haben. Diese Angebote bieten Anonymität und intuitive Zugänge, was es erleichtert, über persönliche oder schambesetzte Themen zu sprechen, besonders in schriftlicher Form.
Digitale Werkzeuge ermöglichen zudem eine Personalisierung und Individualisierung der Seelsorge, etwa durch KI-gestützte Chatbots oder KI-unterstützte Gesprächsbeiträge. Dies führt jedoch auch zu neuen Herausforderungen: Vertraulichkeit, Datenschutz und die Notwendigkeit digitaler Kompetenz sind ebenso relevant wie die Gefahr der digitalen Überlastung von Seelsorgenden.
Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Seelsorgenden, IT-Expertinnen, Psychologinnen und anderen Fachleuten ist unerlässlich. Ethische Fragen und konzeptionelle Richtlinien müssen geklärt und besprochen werden.
Das Internet schafft (Lebens-)Räume und ermöglicht Begegnungen auf Augenhöhe, mit flachen Hierarchien und der Möglichkeit zu direktem Feedback. Die digitale Seelsorge bietet Nähe trotz Distanz und eröffnet vielfältige Kontaktmöglichkeiten, sei es offen, anonym, teilanonym, per Video, schriftlich oder telefonisch. Diese Flexibilität zwingt Anbieter dazu, Seelsorge nicht nur aus der Perspektive der Seelsorgenden, sondern intensiv auch aus der Sicht der Ratsuchenden zu begreifen. Denn was Menschen als Seelsorge empfinden, ist für sie Seelsorge.
Es gibt viele Herausforderungen und Hürden, und manchmal bedeutet es, über den eigenen Schatten zu springen. Doch die Erfahrungen der letzten 30 Jahre zeigen: Es gelingt. Der digitale Raum mag technisch vermittelt sein, aber er schafft eine Nähe und Verbundenheit, die von den Ratsuchenden immer wieder als warm und unterstützend empfunden wird. Die Rückmeldungen zeigen, dass diese Art der Seelsorge wertvoll ist und als ebenbürtig zur Seelsorge in Präsenz wahrgenommen wird.
Die Digitalisierung hat unsere Welt in vielerlei Hinsicht verändert – und auch die Seelsorge bleibt von diesen Entwicklungen nicht unberührt. Digitale Technologien bringen neue Herausforderungen, aber auch ungeahnte Möglichkeiten. Seelsorge kann heute flexibler, zugänglicher und individueller gestaltet werden als je zuvor. Dies erfordert Anpassungsfähigkeit und die Bereitschaft, neue Kompetenzen zu entwickeln.
In einer mediatisierten Welt, in der analoge und digitale Erfahrungen verschmelzen, müssen Seelsorgende technisches Know-how und die Feinheiten der digitalen Kommunikation beherrschen. Sie müssen in der Lage sein, Menschen in ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten zu begegnen – ob analog oder digital, synchron oder asynchron, persönlich oder anonym.
Trotz aller technologischen Fortschritte bleibt die zentrale Frage: Was macht menschliche Seelsorge unverzichtbar? Die Antwort liegt in der Empathie, im tiefen Verständnis für menschliche Emotionen und in der Fähigkeit, echte Beziehungen aufzubauen – etwas, das auch die ausgefeilteste künstliche Intelligenz nicht vollständig ersetzen kann. Und sie liegt darin, auch als Seelsorgende manchmal ratlos und überfordert zu sein, nicht weiterzuwissen und zu weinen, zu klagen, trotzig zu hoffen und Schweigen auszuhalten, statt endlos Antworten zu generieren.
Die Zukunft der Seelsorge wird hybrid sein, eine Mischung aus traditionellen und digitalen Ansätzen. Dabei wird es entscheidend sein, die Balance zwischen Technologie und Menschlichkeit zu wahren. Seelsorge wird sich weiterentwickeln, aber ihr Kern, die aus dem christlichen Glauben motivierte und im Bewusstsein der Gegenwart Gottes vollzogene Zuwendung (SeelGG), bleibt unverändert.
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Diesem Artikel liegt ein Vortrag auf der Jahrestagung der DGfP in Hofgeismar im Mai 2024 zugrunde.